Was Kinder von unperfekten Eltern lernen können – ein psychologisches Kinderbuch über Perfektionismus und Marmeladenklekse

Im Sommer zur Erdbeerzeit laufe ich mit meinen Kindern gerne zum Erdbeerfeld. Meine Kinder lieben Erdbeermarmelade. Sie haben in den ersten Jahren auf dem Feld immer wieder den Wunsch geäußert, auch mal selber Marmelade mit mir zu kochen. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ihr Wunsch in Erfüllung ging. Denn ich hatte keine Erfahrungen im Marmeladekochen und habe mich nicht so recht an selbstgemachte Marmelade herangetraut. Zumal bei mir in der Küche die Dinge öfter mal danebengehen.

Inzwischen weiß ich, wie es geht und wir machen im Sommer regelmäßig unsere eigene Marmelade. Die wichtigste Zutat ist dabei für mich der Mut zum Un-Perfektionismus. Und so tragen meine Kinder an den Erdbeer-Tagen ihre Sommerhüte auf dem Kopf, ihre Eimer in der Hand und ich die Haltung im Herzen, dass uns kein Missgeschick aus der Bahn werfen kann.

 

Unsere eigenen Ansprüche als Eltern

Die meisten von uns haben hohen Ansprüche an sich selbst.

Wir möchten perfekte oder zumindest besonders gute Eltern sein. In vielen Familien versuchen zwei Erwachsene außerdem Job(s), Haushalt, gesunde Ernährung, Bewegung, Freundeskreis mit der Partnerschaft und den jeweils eigenen Bedürfnissen unter einen Hut zu bringen. So befinden sich viele Elternpaare im Dauerspagat – das erlebe ich auch in meiner Praxis für (Online-) Paartherapie, Paarberatung und Familientherapie. Ich habe in einem Blogartikel über Hilfsangebote für erschöpfte Eltern ausführlicher über diesen Dauerspagat geschrieben. Wir erkennen nicht an, dass es unmöglich ist, in allen Bereichen gleichzeitig und ohne Hilfe das hinzukriegen, was wir gerne hätten. Hier spielen einerseits gesellschaftliche Rahmenbedingen eine Rolle. Und auch unsere eigenen perfektionistischen Tendenzen. Den gesellschaftlichen Rahmen können wir hier und heute nicht umkrempeln, unsere Haltung schon - womit wir bei unserem Gestaltungsspielraum sind.

 

Was ist Perfektionismus? Und was sind eigentlich "Fehler"?

In der Psychologie und der Philosophie wird auf unterschiedliche Weise diskutiert, was Perfektionismus ist. Als Psychologin ist mir die Sichtweise meines eigenen Fachfeldes auf Perfektionismus vertraut. Inzwischen habe ich eine eigene Definition gefunden, die ich in der psychologischen Arbeit mit Eltern und Paaren gerne nutze.

 

Ich definiere Perfektionismus als Haltung uns selbst und/ oder anderen Menschen gegenüber, die Fehler als etwas Unerwünschtes betrachtet (einschließlich der aus Fehlern resultierenden Gefühle).

 

Ein „Fehler“ kann sich auf Verhalten beziehen, also ein „Missgeschick“, das dazu führt, dass ein bestimmtes Ergebnis nicht erreicht wird. Wenn ich zum Beispiel beim Einfüllen der Marmelade die Gläser nicht treffe und die Masse auf der Anrichte landet, ist mir Fehler passiert. Und Fehler passieren jedem von uns und ständig - weil wir Menschen sind.

 

Zum Zweiten sprechen wir von „Fehlern“ auch auf der Ebene von Persönlichkeitsmerkmalen. Wir meinen dann eine Eigenschaft an uns selbst oder einem anderen Menschen, die uns herausfordert oder überfordert – wobei uns letzteres oft erst einmal gar nicht bewusst ist. Wenn wir diese Eigenschaften „nicht haben wollen“ und anfangen, gegen sie zu leben statt mit ihnen, kann das auf eine perfektionistische Tendenz hinweisen.

 

Das Ding ist: Persönlichkeitsmerkmale sind nicht besonders veränderungsfreudig. Sie sind ein Teil von uns bzw. der Menschen um uns herum, ob wir sie bekämpfen oder nicht. Ein Beispiel: Ein Elternteil mit einem hohen Maß an Offenheit drängt sein introvertiertes Kind immer wieder zu Gruppenaktivitäten, bei denen sich das Kind unswohl fühlt.

 

Psychologische Perfektionismusforschung: Von wem erwarten wir perfekt zu sein?

Ich habe bereits einen Punkt am Rande erwähnt, die ich noch nicht explizit benannt habe. Sie betrifft die Frage, wem ich keine Fehler zugestehe. Mir selbst?  Meinen Kindern? Dem Partner oder der Partnerin?  Den Kolleg*innen? Vielleicht niemandem? Das Perfektionismus-Modell von Hewitt und Flett zieht beschäftigt sich damit, an wen sich der eigne Perfektionismus richtet bzw. orientiert. Es gibt noch einige weitere und auch neuere wissenschaftlich untersuchte Modelle, die den Perfektionismus in verschiedene einteilen und beschreiben (z.B. von Frost & Marten DiBartolo, 2002).

 

In der psychologischen (Online-) Beratung und Therapie für Eltern und Paare frage ich: wo sind die Bereiche, über die eine Person oder eine Familie stolpert hinsichtlich der Ansprüche. Wo hat jemand Angst, sich zu zeigen, aus Angst für die eigenen Macken abgewertet zu werden. Wo schämt sich jemand? Wo führen die eigenen Ansprüche zu Kummer? Und da braucht es den individuellen Blick. Gleichzeitig denke ich, dass wir verallgemeinernd festhalten können, dass wir alle perfektionistische Anteile haben. Und ich glaube, was wir nicht gebrauchen können, ist, dass wir gegen diese Anteile kämpfen. Das wäre ja das Gegenteil einer gelassenen Haltung und selbst wieder eine Facette des Perfektionismus. 

 

Stattdessen dürfen wir unsere perfektionistischen Seiten liebevoll in den Arm nehmen und ihnen sagen: „Macht euch keine Sorgen, ihr dürft bleiben. Ich schätze sehr, dass ihr mich darauf hinweist, dass mir manche Dinge sehr wichtig sind!“ - mit dem Wissen, dass wir nicht alles tun müssen, was unser Perfektionismus uns "befiehlt".

 

Ein Kinderbuch über (Un-) Perfektionismus und eine starke Fehlerkultur

Ein Gefühl, das eine besondere Rolle spielt, ist Scham.

Viele Eltern rutschen in einen Schamstrudel, wenn sie denken (!), etwas falsch gemacht zu haben – oder falsch zu sein.

Eltern beschreiben es häufig so: „Ich fühle mich dann klein und wertlos“ oder „ich möchte mich dann am liebsten verstecken und aus meinem Versteck nie mehr rauskommen!“

 

Für die eigenen Kinder wünschen es sich viele Eltern anders: sie sollen sich ausprobieren dürfen, dabei auch stolpern und scheitern und unbefangen aus ihren Fehlern lernen dürfen. Kinder brauchen Modelle, die ihnen zeigen, wie das gehen könnte.

 

Die Figuren Mia und Mama, aus meinem psychologischen Kinderbuch „Mia und Mama machen Marmelade – ein Rezept für einen liebevollen Umgang mit Missgeschicken und Macken“ machen es vor! Mia und Mama haben etwas, was ich eine „starke Fehlerkultur“ nennen. Sie sind mutig und probieren Neues aus. Sie wagen es, Erdbeermarmelade selber zu machen, wenngleich sie damit noch keine Erfahrungen haben und ihre Kekse schrecklich schmecken. Sie trauen sich, andere Menschen um Rat zu fragen, wenn sie nicht weiterwissen. Und sie haben Ideen, was sie tun können, wenn etwas schiefgegangen ist. Außerdem übernimmt Mama die Verantwortung für ihre Fehltritte. Insbesondere, wenn sie die Menschen um sich herum verletzt hat: dann entschuldigt sie sich. Das kann für Kinder wichtig sein, damit sie sich nicht belastet fühlen von einer Verantwortung, die sie noch nicht tragen können.

 

Die Botschaft, die Mia und Mama kleinen und großen Leser*innen vermitteln wollen lautet: „Fehler gehören zum Leben wie die Erdbeeren zum Sommer“.

 

Wie in allen meinen psychologischen Kinderbüchern spielen große Gefühle und die Bindung zu Lieblingsmenschen eine wichtige Rolle.

 

Und die Arbeit an diesem Buch ist übrigens der Grund, weshalb ich mich inzwischen mit den einzelnen Schritten beim Marmeladenkochen wirklich gut auskenne. 


Ab sofort erhältlich: "Mia und Mama machen Marmelade - ein Rezept für einen liebevollen Umgang mit Missgeschicken und Macken" kann über den Shop von Tredition bestellt werden. Erhältlich als Softcover, das in jede Schultüte und Reisetasche passt.

Mia und Mama machen Marmelade

Ein Rezept für einen liebevollen Umgang mit Missgeschicken und Macken

Illustriert von Anna Lisicki-Hehn

 

Mia und Mama wollen Marmelade kochen - so wie Opa letzten Sonntag.

Was, wenn etwas schief geht? Denn Mama nimmt es mit dem Kochen meist nicht so genau. Während Opa genaue Vorstellungen davon hat, wie die Marmelade werden sollte.

Mia und Mama helfen Erwachsenen dabei, mit Kindern über „Fehler“ zu sprechen. Sie zeigen kleinen und großen Leser*innen ihr Rezept für einen liebevollen Umgang mit Missgeschicken und Macken. Der psychologische Fachteil im Anschluss an die Geschichte greift das Thema „Perfektionismus“ auf und benennt Merkmale einer starken Fehlerkultur.Dieses Buch vermittelt die Botschaft:

„Fehler gehören zum Leben - genauso wie die Erdbeeren zum Sommer.“

 


Literaturhinweise zu diesem Blogartikel:

 

Spitzer, N. (2016). Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen: Ein Leitfaden für Psychotherapie und Beratung. Springer-Verlag.

 

Hewitt, P. L. & Flett, G. L. (1991). Perfectionism in the self and social contexts: conceptualization, assessment, and association with psychopathology. Journal of Personality and Social Psychology, 60(3), 456-470. doi: 10.1037/0022- 3514.60.3.456

 


Wer schreibt hier?

 

Dies ist das Blog des Halthafens von Julia Schneider.

  

Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Aus meiner Arbeit heraus entwickele ich außerdem psychologische Kinderbücher. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein