Die kleine Box in der Mitte des Raumes - Über Tränen und Bindung in Familie und Partnerschaft

In der Mitte des Tisches in meinem Praxisraum steht eine kleine Box.

Mit weißen, weichen Tüchern.

Sie steht da. Ganz still. Und sagt wortlos: "Tränen herzlich Willkommen!"

 

Mich beeindruckt, wie unser Körper uns unterstützt. Tränen sind eine beinahe unsichtbare Maßnahme unseres Körpers.

Wenn wir einen Fremdkörper im Auge haben.

Oder, wenn wir versuchen, mit emotionalen Herausforderungen zurechtzukommen.

In diesem Text schreibe ich als Psychologin über "psychogenen Tränen" - Tränen, die mit Emotionen verbunden sind.

 

Warum wir weinen bei großen Gefühlen

Die Frage danach, warum wir weinen, beschäftigt viele Psycholog*innen und Forschungsgruppen. Es gibt bemerkenswerte Studien und kreative Experimente in diesem Bereich. Der Psychologe Ad Vingerhoets (einen Literaturhinweis findest du unten) hat sich beispielsweise viele Jahre wissenschaftlich mit dem Weinen beschäftigt.

 

Wir weinen, wenn wir emotional bewegt sind.

Wir weinen bei Abschied und Verlust - und allgemein, wenn wir die Erfahrung machen, von einem wichtigen Menschen getrennt zu sein (in der Gegenwart oder in der Erinnerung).

Wir weinen, wenn wir Erschöpfung spüren, uns hilflos fühlen und auch, wenn wir Musik hören, die uns berührt.

Oder, wenn unsere Freude so groß ist, dass wir nicht wissen, wohin damit.

 

Tränen sprechen ihre eigene Sprache.

Sie sprechen leise.

Als Menschen können wir diese Sprache verstehen - dann, wenn wir aufmerksam miteinander sind.

Für mich ist es dieser besondere Trick, der den Zauber ausmacht: Dadurch, dass Tränen fast unsichtbar sind, ziehen sie die Menschen an, die es gerade braucht - Menschen, die feinfühlig hinsehen und hinlauschen.

 

Wenn auf Fotos von weinenden Menschen nachträglich die Tränen entfernt werden, geht ein Teil ihres Ausdrucks verloren. Und es geht ein Teil unseres Mitgefühls für die traurig aussehende Person verloren (spannende Versuche dazu z.B. von Randolph Cornelius).

 

Es gab eine Zeitlang die Idee, dass Weinen an sich "heilsam" ist.

Weil emotionale Tränen einen höheren Anteil an Stresshormonen haben als andere Tränenformen.

Und, weil wir manchmal erleben, dass es uns besser geht, wenn wir geweint haben.

Inzwischen wissen wir: Es kommt drauf an.

Darauf, in welchem Umfeld wir weinen und wie dieses Umfeld reagiert.

Wenn wir umgeben von Menschen sind, mit denen wir uns nicht wohl fühlen und die uns abwerten für unsere emotionalen Reaktionen, dann fühlen wir uns durch das Weinen womöglich "noch schlechter".

Tränen spülen den Kummer nicht weg.

Sondern: Tränen laden dazu ein, dass sich uns jemand zuwendet und mit uns durchsteht, was gerade ist.

Und wenn ein solcher Mensch da ist, dann fühlen wir uns besser.

 

Tränen sind Transporthüllen für unsere Gefühle. Für die Botschaft: "Schau! Ich brauche dich. Ich komme gerade nicht so gut alleine klar."

 

Kinder übermitteln diese Botschaft, je jünger sie sind umso mehr, noch lauter. Wenn sie weinen, ist das mit viel mehr Akustik verbunden als bei uns Erwachsenen. Zumindest hier bei uns - denn wie wir weinen ist immer auch eine kulturelle Frage.

Wenn wir auf die Kinder schauen, wird dieser kommunikative Aspekt wunderbar deutlich. Wenn Kinder weinen, versuchen sie die Nähe zu ihren Bezugspersonen herzustellen.

 

Kindern erklären, warum wir weinen

 

Wenn unsere Kinder unsere Tränen sehen, fragen sie manchmal, warum wir weinen. Diese Frage kann ein wunderbarer "Anlass" sein, um mit Kindern über Gefühle und über Bindung ins Gespräch zu kommen.

Ich entwickele gerne Metaphern für psychologische Zusammenhänge. Die folgende Geschichte können Eltern nutzen, um Kindern die Funktion von Tränen zu erklären (oder als Inspiration, um sich gemeinsam eine eigene Geschichte dazu auszudenken):

 

Kannst du dir eine Träne vorstellen, die sich als Propellermaschine verkleidet hat?

Ein kleiner, durchsichtiger Tropfen, der in uns herumfliegt. Mit zwei freitragenden Flügeln. Einer links und einer rechts.

Mit einem Propeller vorne und einem Seitenruder hinten.

Auf dem Rücken der Träne ist ein freier Sitzplatz.

Wenn ein Gefühl in uns sehr groß wird, dann wissen wir manchmal nicht, wohin damit oder was helfen kann. Dann ruft dieses Gefühl die Propellermaschine.

Die Maschine kommt dann angeflogen und sagt: "Spring rein!"

Und dann fliegt die Träne mit dem Gefühl los (bzw. mit einem Teil des Gefühls).

Hin zu einem Lieblingsmenschen.

Und wenn der Mensch gerade feinfühlig reagieren kann - und gelernt hat was es bedeutet, wenn eine kleine Propellermaschine angeflogen kommt - dann setzt er sich hin zu uns. Und bleibt. Bis es ein kleines bisschen besser geht.

 

Tränen und Trost in der Partnerschaft

Auch viele Paare weinen miteinander. Oder aber, eine*r weint und der oder die Andere ist unsicher, was helfen könnte. Oder ist überfordert und reagiert vielleicht abweisend.

Die meisten Paare teilen ihren Alltag miteinander. Und damit viele verschiedene Gefühle.

Manchmal Freude und Überraschung und manchmal Ärger oder Traurigkeit.

 

Und so schickt unser Körper eben manchmal auch seine Tränen-Propellermaschinen mit einen Gefühl los, in der Hoffnung, dass der Partner oder die Partnerin Trost spendet.

 

Dass es manchen von uns schwer fällt, bei großen Gefühlen füreinander da zu sein, ist normal. Insbesondere, wenn Bezugspersonen nicht gezeigt haben, wie das gehen könnte.

Und auch, wenn gerade die eigenen Ressourcen erschöpft sind.

Denn die brauchen wir, wenn wir trösten wollen.

Deshalb mogelt sich so gerne Ablenkung dazwischen, wenn wir gerade keine Zeit oder Energie haben.

 

Manche Frauen und Männer beklagen sich darüber, dass der oder die Partner*in in emotionalen Momenten versucht, Lösungen zu suchen oder davon überzeugen möchte, dass dies oder jenes doch "gar nicht so schlimm" sei.

Und der Partner oder die Partnerin fragt: "was soll ich denn sonst tun?"

 

Manchmal lohnt es sich, als Paar etwas Neues auszuprobieren.

Es ist eine individuelle Frage, wie wir einander Trost spenden können.

Vielleicht gemeinsam dasitzen und zusammen aus dem Fenster schauen.

Einander an der Hand halten.

Dasitzen und Nüsse füreinander knacken.

Tee bringen. Oder eine Wärmflasche.

Oder der Musik lauschen. Vielleicht findet sich eine Liedzeile, die das Herz weitet oder eine Melodie, die wärmt.

 

Manche Paare entwickeln hier ihren Stil ganz allmählich miteinander.

Und manche Paare lassen sich hierbei von einem Paartherapeuten oder einer Paartherapeutin begleiten.

Wenn dabei Tränen fließen, ist das ok.

Denn in der Mitte des Tisches steht eine kleine Box, die sagt: "Tränen herzlich Willkommen!"

 

 

Literaturhinweis:

Vingerhoets, A. J., & Cornelius, R. R. (Hrsg.) (2012). Adult crying: A biopsychosocial approach. Routledge.

 


Dies ist das Blog des Halthafens.

 

Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein.