Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine (Online-) Paartherapie? Oder: Es ist selten zu früh, sich Unterstützung zu holen

Charlotte und Gregor sind ein Liebes- und Elternpaar. Ihr Sohn Lio ist vier Jahre alt. Nach 15 Monaten Beziehung waren Charlotte und Gregor das erste Mal bei einer Paartherapeutin - kurz nachdem sie erfahren haben, dass sie bald Eltern werden. Sie wussten, dass viele Veränderungen auf sie zukommen werden. In ihrem Umfeld haben sich einige Paare in den ersten Jahren als Eltern getrennt. Charlotte und Gregor wollten bestmöglich vorbereitet sein. In der Paartherapie haben Charlotte und Gregor ihre Beziehung beleuchtet - und neue Facetten aneinander entdeckt. Sie haben ein Fundament an Werten für ihre Elternschaft entwickelt. Sie haben ihren Umgang mit Gefühlen weiterentwickelt. Sie haben Möglichkeiten gefunden, um nach Unstimmigkeiten wieder aufeinander zugehen zu können. Und sie sind übereingekommen, dass es für sie als Paar und auch für Lio wichtig sein wird, dass sie sich immer wieder Zeit füreinander nehmen und ihre Begeisterung füreinander lebendig halten. Das Farbenspiel ihrer Paartherapie reichte von gelber Freude, lichtroter Leidenschaft und orange leuchtenden Humor über schwarz-blauen Schmerz und grau schillernde Ent-täuschung bis hin zu kunterbuntem Stolz.

 

Was es wirklich bedeutet, wenn sich "durch die Geburt eines Kindes das Leben komplett verändert" haben Charlotte und Gregor nach Lios Geburt erfahren. Und es hat sie umgehauen. In den ersten drei Jahren mit Lio waren sie hauptsächlich für Lio da, meistens müde und oft genervt. Das Aushandeln einer Aufteilung von Aufgaben, in der sich Charlotte und Gregor mit ihren Stärken wiederfinden, war zäh und kostete beiden Kraft. Es gab Tage, an denen ihr Fundament gebröckelt hat. Es gab Wochen, in denen jede Kleinigkeit in einen großen Streit geführt hat. Und es gab Monate, in denen der Stolz und die Leidenschaft ganz und gar nicht mehr aufzuspüren waren.

Gleichzeitig haben sie an einem Ritual festgehalten: Sie haben ungestört miteinander gesprochen. Darüber, was sie bewegt; in jeder Woche (außer wenn sie krank waren). Für eineinhalb Stunden. Und sie haben durch wenige kleine und bewusste Gesten versucht, entstandene Verletzungen auszugleichen.

 

Präventive (Online-) Paartherapie

Charlotte und Gregor sind ein Paar, das paartherapeutische Unterstützung präventiv nutzt. Studien zeigen, dass Paare langfristig profitieren, wenn sie bereits zu Beginn ihrer Beziehung professionelle, paartherapeutische Unterstützung haben. Dabei können viele Paare Hilfe von außen insbesondere dann gut gebrauchen, wenn sich ihre Lebenssituation verändert - beispielsweise dadurch, dass sie Eltern werden.

Der Zeitpunkt, wann ein Paar begleitet einen Blick auf die Partnerschaft wirft, kann eine großen Unterschied für den Verlauf und die Ergebnisse einer (Online-) Paartherapie machen.

 

Paare halten viel aus, bevor sie eine Paartherapie beginnen

Wenn man sich genauer anschaut, wie Paare mit Unzufriedenheit in ihrer Beziehung umgehen, zeigt sich (beispielsweise in Befragungen), dass Paare viele Jahre in anhaltendem Streit oder Schweigen miteinander leben, bevor sie Hilfe suchen.

 

Gerade als Eltern von jungen Kindern sind wir häufig im Modus des Funktionierens. Wir stellen uns selten die großen Fragen: Sind wir glücklich, so wie wir leben? Geht es uns miteinander als Paar und als Familie wirklich gut? Kommen wir jeweils mit unseren Bedürfnissen und Wünschen ausreichend in der Beziehung vor? Ist unser Umgang mit Konflikten für uns und die Kinder passend?

Sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, kostet Zeit und Energie. Zeit und Energie haben wir selten übrig, wenn die Kinder klein sind. So geht es vielen Eltern eine Zeitlang. Es ist ok und völlig normal, die Liebesbeziehung und damit verbundene Fragen in den Hintergrund treten zu lassen. Gleichzeitig zahlen wir einen Preis dafür - und dieser ist umso höher, je länger wir wegschauen. Wenn das Miteinander als Eltern- und Liebespaar zu einem andauernden Buhlen und Kämpfen wird, dann leiden oft auch die Kinder - sie beobachten uns Erwachsene dabei, wie wir unsere Partnerschaft gestalten.

 

Eine bewusste Beziehung führen

Es gibt den Begriff der "bewussten Beziehung". Eine bewusste Beziehung zeichnet sich dadurch aus, dass sich Partner*innen dazu verpflichtet fühlen, sich um die Beziehung zu kümmern. Es geht darum, eine Beziehung zu gestalten, mit der sich beide wohlfühlen. Paare, die eine bewusste Beziehung führen, stimmen sich ab und tauschen sich aus: über gemeinsame und individuelle Träume. Im besten Fall sind wir "bewusst und glücklich" in unserer Liebesbeziehung.

 

Es gibt darüber hinaus für Paare einen möglichen Zustand, den ich als "bewusst unglücklich" bezeichne. Gerade Eltern mit sehr jungen Kindern sind manchmal "bewusst unglücklich" als Paar.nEs bedeutet, dass Paare sagen: "Eine glückliche Partnerschaft fällt nicht vom Himmel, sie entsteht, weil zwei Menschen es aktiv versuchen. Ich bin nicht zufrieden mit unserer Beziehung, entscheide mich zu bleiben und diesen Zustand vorerst anzunehmen - weil dies für mich jetzt gerade die bestmögliche Lösung ist. Wir haben keine Ressourcen, um uns um unsere Liebesbeziehung zu kümmern. Wenn sich die Rahmenbedingungen ändern (das jüngste Kind z.B. kein Baby mehr ist), werden wir den Blick auf die Beziehung wagen und weitersehen."

 

Eine völlig andere innere Haltung geht mit dem Zustand einer "unbewusst unglücklichen Beziehung" einher. Unbewusst unglückliche Paare leben dauerhaft unzufrieden aneinander vorbei. Manche Paare schauen am Ende des Lebens zurück und sagen: "Ich habe mein Leben nicht gelebt!"

 

Es gibt auch die unbewusst glücklichen Paare, also Paare, die ohne viel Beziehungsarbeit ein sehr hohes Niveau an Zufriedenheit und Lebendigkeit in der Partnerschaft erleben. Das ist wunderbar - und selten.

 

Die Kinder kennen die Antwort auf die Frage, ob ihre Eltern miteinander als Paar glücklich sind. Sie interessieren sich dafür, wie ihre Eltern sich verhalten und sie sind Meister*innen im Lesen der Gefühle, die ihre Mitmenschen durch nonverbale Signale zeigen. Führen Eltern eine bewusste Beziehung, dürfen die Kinder in einem stimmigen Klima leben. Übrigens unabhängig davon, ob ein Paar sich als "bewusst glücklich" oder "bewusst unglücklich" erlebt. Denn es ist gut möglich, die Haltung auch gegenüber den eigenen Kindern zu vertreten, dass "es für Mamas und Papas* Höhen und Tiefen gibt und wir gerade manchmal eben unzufrieden in der Liebesbeziehung sind..."

Die Unzufriedenheit auf der Paarebene sollte Erwachsenensache bleiben. Auch insofern, als dass Eltern ihren Kindern signalisieren sollten, dass die Erwachsenen sich um ihre Themen kümmern und die Kinder sich mit diesen nicht weiter zu beschäftigen brauchen.

 

Paartherapie als Hilfsmittel zur bewussten Beziehung

Paare dürfen es sich wert sein, frühzeitig innezuhalten und in Begleitung einer Fachperson einen behutsamen und ehrlichen Blick auf ihre Beziehung zu werfen.

 

Bei der Beziehungsarbeit geht es nicht primär darum, Probleme aus der Welt zu schaffen. Vielmehr geht es darum, dass zwei Menschen die Fähigkeit entwickeln, ihre eigenen Probleme zu lösen und mit den unangenehmen Gefühlen, die wir in Liebesbeziehungen erleben können, einen Umgang zu finden.

Und wenn Eltern sich auf den Weg machen, diese Fähigkeiten weiterzuentwickeln, dann profitieren meist auch die Kinder davon. Denn das ist ja, was Kinder brauchen: Erwachsene, die ihnen vorleben, wie ein Umgang mit der ganzen Palette an Gefühlen im Alltag ganz praktisch aussehen kann.

 

Übrigens: Seit dem dritten Geburtstag von Lio gehen Charlotte und Gregor wieder zur Paartherapie. In regelmäßigen Abständen alle zwei Monate - auch und gerade dann, wenn die "Hütte nicht brennt! Weil es einfacher und schöner ist," finden Charlotte und Gregor, "an einer Liebesbeziehung zu arbeiten - anstatt zu versuchen, einen Scherbenhaufen wieder zusammenzusetzen."


Ergänzender Hinweis:

Ich möchte Paare dazu ermutigen, frühzeitig paartherapeutische Unterstützung zu nutzen, wenn sie spüren, dass dies etwas für sie sein könnte. Ich möchte außerdem dazu ermutigen, die Idee loszulassen „es alleine schaffen zu müssen“.

Gleichzeitig kann es gute Gründe geben, weshalb Paare keine Paartherapie - oder zu einem späteren Zeitpunkt in der Beziehung – nutzen wollen. All das ist ok. Es gibt nicht den einen richtigen Weg - schon gar nicht in Liebesbeziehungen.



Wer schreibt hier?

 

Dies ist das Blog des Halthafens von Julia Schneider, Psychologin und Mutter von zwei Kindern.

 

Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Aus meiner Arbeit heraus entwickele ich außerdem psychologische Kinderbücher. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein.