Wenn Frau Spiel Herrn Ernst des Lebens begegnet - Warum Kinder spielen und Eltern- und Liebespaare es auch tun sollten

Spielen ist die Form, in der das Leben unserer Kinder größtenteils stattfindet.

 

Kinder spielen von morgens bis abends und sie können nahezu alle Gegenstände in ihr Spiel einbeziehen.

Da wird das Basilikumtöpfchen zum Baum, von dem der Dino sich am liebsten ernährt. Die magische Murmel kann Schuhe wegzaubern. Tanzende Buchstaben werden zu Fantasiewörtern, die sich in die Gute-Nacht-Geschichte einschmuggeln. Und das Wohnzimmer wird zum Treffpunkt für Mr. Miesestimmung, Frau Glück und Herrn Freude (hierzu weiter unten mehr).

 

Kinder investieren viel Energie, um ihr Spiel aufrechtzuerhalten oder es abschließen zu können - das kennen alle Eltern, zum Beispiel von den Tagen, an denen wir es (beinahe) nicht schaffen, einen Termin als Familie einzuhalten.

 

Auch, wenn wir uns als Eltern dessen „vorher“ nicht bewusst waren: wenn wir Kinder haben, nimmt das Spielen in verschiedenen Formen für einen großen Zeitraum einen viel Platz in unserm Leben ein.

 

Kinder spielen aus verschiedenen Gründen.

Im Spiel…

  • entdecken und erweitern Kinder ihre körperlichen Fähigkeiten
  • schulen Kinder ihre Wahrnehmung.
  • erproben sie, wie ein Umgang mit Hürden und Herausforderungen aussehen kann.
  • trainieren sie ihre sozialen Kompetenzen und Kommunikationsfertigkeiten.
  • trainieren Kinder Fähigkeit zur Selbstregulation (Entspannung, Aktivierung), insbesondere auch zur Regulation von starken Gefühlen.
  • entwickeln sie Begeisterung und finden Interessensfelder.

In meinem eigenen Alltag mit meinen Kindern versuche ich möglichst oft auf ihre „Spielzüge“ aufzuspringen - statt gegen sie anzukämpfen.

Weil es den Alltag leichter macht.

Weil das Spiel der Kinder dazu einlädt, mehr im „Hier und Jetzt“ zu sein – wo wir uns im Hochgeschwindigkeitsalltag viel zu selten aufhalten.

Weil wir als Eltern die Bindung zu unseren Kindern spielerisch stärken können (hier schreibe ich über mein Kinderbuch über Bindung).

Und weil das Spielen sehr viel mit dem zu tun hat, was uns als Menschen ausmacht, mit unseren zutiefst menschlichen Merkmalen (Mimik lesen lernen, in Verbindung sein, Ziele umsetzen,…).

 

Und so schlüpfe ich manchmal schon morgens in die Rolle eines riesigen Toast-Brotes, lege krumme Kleiderschlangen auf den Boden, verzaubere Kieselsteine in schützende Energiesteine – oder sitze da und sehe zu, welche Welten sich in unserem Wohnzimmer vor mir auftun.

 

Spiel aus biopsychologischer Sicht

Natürlich gelingt ein solch spielerischer Umgang im Familienalltag nicht immer - das gilt für mich genauso wie für alle anderen Menschen. Denn wir sind weder kreativ, noch können wir uns anderen Menschen wirklich zuwenden, wenn wir unter (Zeit-) Druck stehen, gestresst sind und uns emotional nicht sicher fühlen.

 

Spiel ist biologisch gesehen eine Besonderheit. Wir sind aktiv und in einem Modus von Mobilisation, wobei unser Körper gleichzeitig die Aktivität in einem bestimmten Bereich hält und das Auslösen von Verteidigungsreaktionen bremst. Damit dies funktioniert, brauchen wir (d.h. unsere Hirnregionen, die die Umgebung auf Gefahr scannen) durch die Umgebung und die Menschen um uns herum die Rückmeldung, dass wir sicher sind.

 

Das klingt kompliziert?

 

Ein Beispiel, das diesen Sachverhalt verständlicher macht, ist dies: Denke mal an einen Fußballspieler (ich nutze hier bewusst die männliche Form), der im Spiel von einem anderen Spieler angerempelt und zu Fall gebracht wird. Durch den Kontext und im besten Fall die beschwichtigende Geste (Blickkontakt, Hand reichen) des anderen Spielers, ist für den Fußballer „alles im grünen“ Bereich und er wird nach dem Rempler wahrscheinlich zielorientiert weiterspielen. Wenn sich diese Szene auf offener Straße zwischen zwei Personen abspielt - auch, wenn der Rempler einem der beiden Personen vielleicht aus Versehen passiert ist – fehlt zunächst einmal die entsprechende Rahmung, die Sicherheit gibt. Bleiben nun von der rempelnden Person Hilfe und beruhigende Gesten aus, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die angerempelte Person in einen Verteidigungs-, Angriff- oder Fluchtmodus geht – die eigenen Arme schützend vor sich hält, wütend mit Schimpfen reagiert oder auch zurückschubst.

 

Im Spiel sind wir also aktiv in einem geschützten Rahmen.

 

Im Leben von Kindern, Eltern- und Liebespaaren sind sichere Bindungen ein wichtiger Aspekt dieses schutzgebenden Rahmens.

 

Die Eltern, mit denen ich in meiner (Online-) Paarberatung und Paartherapie arbeite, stellen sich Fragen wie diese:

 

Wie können wir frischen Wind, neue Leidenschaft in unsere Partnerschaft bringen?

Wir Eltern sind erschöpft und unser Familienleben ist von andauernder Anspannung geprägt – wie können wir dies ändern?

Warum spielt unser Kind in der Kita oder in der Schule nicht mit anderen Kindern?

Wie können wir unserem Kind helfen und einen spielerischen Umgang mit Trennungsschmerz und Trennungsangst finden?

 

Wenn Kinder nicht spielen oder Eltern dauerhaft die Leichtigkeit abhandengekommen ist, lohnt es sich zu schauen: Worin finden die Kinder und die Erwachsenen Halt? Sind die Kinder ausreichend sicher gebunden an die Erwachsenen (je nach Kontext: Eltern, Erzieher*innen, Lehrkräfte usw.)? Was gibt Kindern und Erwachsenen Sicherheit? Was lässt sie vielleicht emotional unsicher fühlen?

 

Erwachsene spielen anders als Kinder

Auch Erwachsene können spielend durchs Leben gehen – nur eben anders als Kinder.

 

Inzwischen gibt es einige Psycholog*innen, die sich von wissenschaftlicher Seite aus mit dem Spiel von Erwachsenen beschäftigen. Unter anderem beschäftigen sie sich mit „Verspieltheit“ als Persönlichkeitsmerkmal.

Der Psychologieprofessor René Proyer hat hierzu ein Modell entwickelt. Sein „OLIW-Modell“ beschreibt, was „Verspieltheit“ bei Erwachsenen umfasst:

  • otherdirected: soziale Beziehungen mit anderen aktiv und kreativ gestalten
  • lighttreated: dem Leben mit Leichtigkeit begegnen und das Leben als Spiel zu sehen, für das sich auch in kniffligen Situationen Lösungen finden lassen
  • intelectuell: mit Ideen und Gedanken jonglieren
  • whimsical: offen sein für witzige und absurde bzw. groteske Situationen

Meines Erachtens entscheidet das Ausmaß an erlebtem Stress ganz entscheidend mit, ob Menschen ihre persönliche Neigung zur Verspieltheit ausleben können – oder nicht. In vielen Familien ist die Leichtigkeit unter der Last des Familienalltags vergraben, die auf zu wenigen Schultern verteilt ist. An vielen Punkten hängt die Erschöpfung von Müttern und Vätern sicherlich mit gesellschaftspolitischen Aspekten zusammen. Aber hier mit dem Denken aufzuhören, wäre schade. Vielmehr dürfen Eltern Erschöpfung als wichtiges Feedbacksignal sehen lernen, das uns dazu einlädt, zu hinterfragen, wo wir im Strom des Hochgeschwindikeitsalltags mitschwimmen wollen und wo nicht.  Eltern können durchaus schauen, an welchen Schrauben sie drehen können, wo sie Entlastung finden können, wo sie grundlegend umdenken wollen – ein paar Anregungen finden sich in meinem Artikel über Hilfen für erschöpfte Eltern.

Über den Einbezug von (psychologischen) Kinderbüchern im Familienalltag, um auf spielerische Weise einen Zugang zu schwierigen Themen zu finden, schreibe ich übrigens in meinem Blog immer wieder, zum Beispiel auch hier.

 

Was wir uns vornehmen sollten

Aus einer entwicklungspsychologisch-bindungsdynamischen Perspektive möchte ich Eltern ermutigen:

 

Wir sollten die Kinder weniger häufig korrigieren und Dinge richtig stellen - insbesondere, wenn sie im Spiel vertieft sind. (Kindern wird beispielsweise häufig verboten im Spiel einen Umgang mit Aggression zu erproben, hier greifen Erwachsene meines Erachtens nach zu viel ein.)

Im Spiel ist alles erlaubt (solange die Rechte andere Menschen nicht verletzt werden).

Genauso in den Fantasiewelten, in die unsere Kinder eintauchen, wenn sie sich abenteuerliche, magische oder komische Geschichten ausdenken. Oder wenn sie in die Rollen der Figuren aus Büchern oder Filmen schlüpfen. Sie sammeln Erfahrungen und Erproben Unbekanntes - abseits von dem, was die "Wirklichkeit" gerade zu bieten hat.

 

Das dürfen wir als Erwachsene auch.

 

Das Denken um die Ecke und die Suche nach kreativen Lösungen gehören meines Erachtens zu den wertvollsten Fähigkeiten für das Leben als Familie - wenn wir eine glückliche Partnerschaft und ein lebendiges Familienleben gestalten wollen, in dem wir mit allen kleinen und großen Menschen würdevoll umgehen.

...Und auch, um Antworten auf die Frage zu finden: wie will ich leben, wie wollen wir leben?

 

Und hier schlage ich nun den Bogen zu meiner Arbeit als (Online-) Paartherapeutin für Eltern. Das Spiel von Liebespaaren beispielsweise kann ganz unterschiedlich aussehen. Je nachdem was zu einem Paar passt. Die kleinen Rituale die spielerisch umgesetzt werden, Gesellschaftsspiele, Frage- und Gesprächsspiele, Spiele im virtuellen Raum, Schreibspiele, gemeinsamer Sport, in der Sexualität, im Tanz, ...

 

In einigen therapeutischen Richtungen, insbesondere auch in der systemischen Therapie, gibt es Ansätze, die Varianten des Spiels integrieren. So lade ich Klient*innen hin und wieder ein, in andere Rollen zu schlüpfen oder sich in die Richtungen zu bewegen, in denen ihre Wunschvorstellungen "Wirklichkeit" werden könnten – erst einmal ganz unverbindlich „im Spiel“.

 

Und ein Hinweis noch, liebe Eltern- und Liebespaare. Wenn ihr Frau Glück und Herr Freude zu euch nach Hause einladen wollt, bedenkt: sie wollen angemessen begrüßt werden, mögen Musik und die Langsamkeit.

Nicht immer, aber manchmal: wenn wir sie bestellen, dann kommen sie auch.

 


Literaturhinweise:

 

Hüther, G., & Quarch, C. (2016). Rettet das Spiel!: weil Leben mehr als Funktionieren ist. Carl Hanser Verlag GmbH Co KG.

 

Proyer, R. T., Brauer, K., & Wolf, A. (2020). Assessing other-directed, lighthearted, intellectual, and whimsical playfulness in adults: Development and initial validation of a short form of the OLIW using self- and peer-ratings. European Journal of Psychological Assessment, 36, 624-634.

 


Dies ist das Blog des Halthafens.

 

Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Aus meiner Arbeit heraus entwickele ich außerdem psychologische Kinderbücher. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein.