Warum es „richtiges Streiten“ nicht gibt und Konflikte im Paar- und Familienalltag trotzdem wertvoll sind

Streiten und Vertragen als Paar

Ein ehrlicher Liebesbrief, eine 10-Sekunden-Umarmung, die Anspielung auf den familieneigenen Running Gag, eine Tasse Lieblingstee, ein Blick der sagt: "Tut mir leid, war doof von mir!"

Das sind Beispiel für „Maßnahmen“, mit denen wir nach einem Krach mit dem Partner oder der Partnerin wieder in Verbindung kommen können.

 

Wenn zwei Menschen eine Beziehung eingehen, dann verletzen sie sich auch. Und in jeder Beziehung kommt Streit vor. Streit gehört zu den am häufigsten genannten Gründen, warum Paare in meiner Praxis für (Online-) Paartherapie anmelden. Wir alle vergreifen uns im Ton oder in der Wortwahl - vor allem dann, wenn wir im emotionalen Keller der Erschöpfung sitzen (was für Eltern junger Kinder eher die Regel als der Ausnahmezustand ist). Für eine Beziehung, in der sich die Partner*innen wohl und sicher fühlen, bedeutet dies, das Liebende die oben erwähnten Reparaturmaßnahmen brauchen, um entstandene Beziehungsrisse ausgleichen zu können.

 

Gleichzeitig brauchen wir - damit wir unsere Liebesbeziehung als glücklich erleben - auch Möglichkeiten mit Stress umzugehen, ohne einander zu verletzen. Wenn wir nur damit beschäftigt sind, Risse zu reparieren, ist nicht genug Platz für Gegengewicht - für die unbeschwert-guten Momente, an denen die Beziehung wächst.

 

Streit in der Familie belastet Beziehungen

Manchmal lese ich Formulierungen wie "So geht faires Streiten in der Partnerschaft“" oder "Streiten ist gut für die Beziehung!". 

       

Zunächst einmal sehe ich, dass immer wieder verschiedene Begriffe miteinander vermischt werden: Konflikt, Streit, Diskussion usw. Es kann sich lohnen, diese Begriffe einmal genauer zu betrachten: 

       

Konflikte sind Teil von Beziehungen. Das ist normal und gut so. Ein Konflikt bedeutet nichts anderes, als dass mindestens zwei Personen zu einem Thema unterschiedliche Standpunkte haben – Standpunkte, die sich zunächst vielleicht widersprechen. In einer Partnerschaft und erst recht in einer Familie ist es eher der Normalfall als ein Ausnahmezustand, dass die Familienmitglieder verschiedene Standpunkte zu einer Frage haben. Wie könnte es auch anders sein? Schließlich sind wir Menschen und jede*r von uns bringt persönliche Merkmale, Eigenheiten und Stimmungen mit.

        

Was ist eine Diskussion? Eine Diskussion ist ein Gespräch über ein Konfliktthema. Wenn wir diskutieren, tauschen wir Standpunkte aus. Wir verhandeln vielleicht Lösungen, wir sammeln Meinungen, wägen ab und prüfen Argumente. Eine Diskussion kann ruhig bis leidenschaftlich geführt werden. So oder so sind die beteiligten Personen dabei in einem inneren Zustand, der es erlaubt, die sogenannten sozialkognitiven Fähigkeiten zu nutzen: ein Ziel im Auge zu behalten, einander zuzuhören, eigene Standpunkte nach außen bringen, Standpunkte anderer Menschen nachzuvollziehen, Ideen entwickeln usw.

         

Und beim Streit? Anders als bei einer Diskussion sind wir im Streit ganz anders involviert. Wir verwenden den Begriff "Streit" meist für Situationen, in denen wir uns in einer Situation befinden, in der es uns nicht gut geht. Wir wittern Gefahr. Um uns selbst zu schützen, greifen wir unsere Lieblingsmenschen an, schieben uns die Schuld gegenseitig in die Schuhe, werden unfair und lassen einander am Ende alleine dastehen. Streit bedeutet, dass sich (mindestens) zwei Menschen nicht mehr in ihrem emotionalen Wohlfühlbereich befinden, sondern im Keller der großen Gefühle (z.B. der Wut) oder der Erschöpfung. Und in diesem Zustand ist es rein biologisch nicht möglich, dass wir einander zuhören. Wir sind dann nicht offen für die Beweggründe der Partnerin oder des Partners und können keine Lösungen suchen. Wenn wir schon im Streit angekommen sind, dann ist es meist zu spät, um Kommunikationsregeln umzusetzen. Dann geht es um etwas anderes: Schadensbegrenzung. Und die Frage: wie kommen wir da raus - aus diesem Strudel, der ein Klima schafft, das auch für die Kinder eine Belastung sein kann.

 

Nur: Zu versuchen, Konflikte durch Streiten zu lösen - durch Kritik, Rechtfertigungen und Abwertung - das führt meist zu Kummer.

 

Wie Streit eine Beziehung belasten kann

Es gibt einige Gründe, weshalb es Sinn machen kann, daran zu arbeiten, einen Umgang mit Konflikten zu finden, der weitestgehend ohne Streit auskommt:

 

1.     Belastung der Bindung: Streit, der von Vorwürfen, Beleidigungen und Verletzungen geprägt ist, kann zu Vertrauensverlusten und einer Schwächung der emotionalen Bindung zwischen den Partnern/ Partnerinnen führen.

 

2.     Eskalation von Konflikten: Streiten kann dazu führen, dass Konflikte immer wieder auftreten, ohne dass sie gelöst oder in ihrer Unlösbarkeit akzeptiert werden. Dies kann zu einer anhaltenden Spannung und Unzufriedenheit in der Beziehung führen.

 

3.    Beeinträchtigung Gesundheit: Ein andauerndes, sehr hitziges Familienklima kann stressbedingte Gesundheitsprobleme begünstigen, wie beispielsweise erhöhten Blutdruck, Schlafstörungen.

 

4.    Belastung der Kinder: Wenn Kinder in einem Familienklima aufwachsen, in dem Streit nicht die Ausnahme sondern der Normalzustand ist, kann dies ihre Entwicklung beeinträchtigen und ihr Vertrauen in wohltuenden zwischenmenschlichen Beziehungen durcheinander wirbeln.

 

Streit hat seine Berechtigung auf individueller Ebene ("Ich brauche das einfach, dass ich meinen Frust mal so richtig rauslassen kann!"). Und Streit kann ein wichtiger Signalgeber sein. Manchmal lohnt es sich zu schauen, was hinter den großen Gefühlen, der eigenen Wut zum Beispiel, steckt. Vielleicht das Bedürfnis als gleichwertig angesehen und behandelt zu werden? Das Bedürfnis die eigenen Grenzen zu schützen? 

Doch die Neurobiologie des Streits und der nahen Beziehungen weist uns darauf hin, was für eine Beziehung hilfreich ist: wenn Partner*innen sich ehrlich mit den eigenen Bedürfnissen und den Vorstellungen der anderen Person auseinandersetzen. Wenn Lösungen verhandelt werden, in denen sich alle Familienmitglieder wiederfinden. Das kann durchaus auch mit großen Gefühlen verbunden sein; mit Ärger oder Traurigkeit. Und kann auch mit Phasen von Verzweiflung oder Ratlosigkeit verbunden sein.
Aber Streit (wenn wir also im Stressmodus ungefiltert Kritik und Abschätzigkeiten austeilen während wir einander gar nicht mehr richtig hören) braucht keine Beziehung. Aus diesen Situationen dürfen wir einen Weg herausfinden. Und dieser Weg sieht für verschiedene Paare unterschiedlich aus. 


Eine kind- und familiengerechte Erklärung dazu, was in uns passiert, wenn wir streiten finden Eltern und Fachkräfte in meinem Kinderbuch "Mona und die magische Gefühlsleiter". 


Manchmal summen dann Liebesbriefe oder Blicke flüstern: "Tut mir leid, war doof... Neustart in einer halben Stunde?"
Das kann dann magisch sein. Ist aber keine Zauberei. Sondern können wir lernen.

 



Wer schreibt hier?

 

Dies ist das Blog des Halthafens von Julia Schneider, Psychologin und Mutter von zwei Kindern.

 

Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Aus meiner Arbeit heraus entwickele ich außerdem psychologische Kinderbücher. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein.