Konfetti aus Papiermüll - welche Erwartungen es Eltern unmöglich machen, eine "glückliche Partnerschaft" zu führen

Eltern in der (Online-) Paarberatung und Paartherapie

Die Liebespaare in meiner paartherapeutischen Praxis sind Eltern. Sie wollen eine Beziehung gestalten, in der sich beide (oder je nach Beziehungsform: alle) Partner*innen wohlfühlen und eine Atmosphäre schaffen, in der auch die Kinder gerne leben und sich entwickeln können.

 

In unserer Idealvorstellung ist die familiäre Atmosphäre geprägt von Harmonie, die Erwachsenen sind größtenteils gelassen, zueinander nett, miteinander geduldig und gegenübereinander aufmerksam. Die Kinder sind ruhig und zufrieden und nehmen das, was wir ihnen anbieten, gerne an.

 

Im Alltag, im echten Leben, erleben wir es anders: Die Kinder zanken nicht nur "hin und wieder ein wenig“, vielmehr gehen sie täglich „wie die wilden Hühner“ aufeinander los. Vor wichtigen Terminen finden wir im großen Wäscheberg keine passenden Socken und ziehen am Ende die Socken der Kinder an. Am Abend werfen wir unserem Lieblingsmenschen Wörter an den Kopf, die wir eigentlich nie sagen wollten. Und vielleicht denken wir dann, dass wir die einzigen sind, bei denen es drunter und drüber geht und die Dinge eher schief als gerade laufen.

 

Ein Blick auf die Entwicklung von Kindern

Wenn wir einen Blick darauf wagen, was uns allgemein als Spezies ausmacht und was uns jeweils individuell prägt, wird deutlich: es ist normal und gut so, dass in der Familie das Chaos die Ordnung überwiegt, der Lärm die Ruhe und das Scheitern die Perfektion.

 

Denn: wir sind hochsozial!

Keine andere Gruppe von Lebewesen ist dies in der gleichen Weise.

 

Damit wir Menschen unsere besonderen Fähigkeiten entwickeln können, brauchen wir ein Spielfeld an Möglichkeiten, auf dem wir in Begleitung üben können, und zwar viel üben können: Eine ganze Kindheit lang und darüber hinaus.

 

Schauen wir uns einige entwicklungspsychologische Aspekte genauer an:

Noch bevor Menschenbabys geboren werden, können sie Konnotationen der menschlichen Stimme unterscheiden. Bereits kurz nach der Geburt orientieren sich Neugeborene nach dem Blickkontakt von anderen Menschen.

Sehr früh in ihrem Leben lernen Kinder die Mimik und Körpersprache der Menschen "lesen", die ihnen Sicherheit geben können - und auch der Menschen, die für sie gefährlich sein könnten.

In jedem Menschen ist das Bedürfnis nach Bindungen angelegt, die uns den Schutz bieten, den wir brauchen, um uns entwickeln zu können (in meinem psychologischen Kinderbuch "Ela, Elmo und die Zaubermomente", Mabuse-Verlag, beschreibe ich dieses Thema ausführlich für Familien).

Zu unserer Entwicklung gehört auch, dass wir nach Selbstständigkeit streben; wir wollen unsere eigenen Erfahrungen machen und uns entsprechend unserer ur-eigenen Persönlichkeit entfalten dürfen.

Im Schutze der Gruppe (der Familie, ggf. der Kindergruppe in der Betreuung, der Schule, des Freundeskreises usw.) lernen Kinder (wobei diese Gruppen dann auch tatsächlich für Kinder sichere Orte sein müssten):

Sie lernen laufen, schulen ihre Motorik und ihre Feinmotorik. Kinder lernen ihre Umwelt mit ihren Gesetzmäßigkeiten kennen.

Kaum haben Kinder sprechen gelernt (und menschliche Sprache ist ein sehr komplexes Kommunikationssystem, für das wir eine Vielzahl an Gehirnleistungen nutzen) lernen sie auch schon, schriftlich und damit über Raum und Zeit hinweg zu kommunizieren.

Kinder entwickeln ein Gespür für Mengen, lernen rechnen, lernen Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, Pläne zu schmieden und wie diese sich umsetzen lassen.

Außerdem und insbesondere lernen Kinder bei alledem eine breite Palette an bunten Gefühlen kennen - bei sich selbst und ihren Mitmenschen. Gefühle, die sie mit der Fähigkeit ausstatten, komplex zu bewerten oder im Notfall blitzschnell zu reagieren. Sie lernen nach und nach, mit ihren unterschiedlichsten inneren Zuständen zurechtzukommen und damit: das Leben zu meistern.

 

… was ich hier benenne, ist nur ein Teil der Fähigkeiten, die Kinder entwickeln.

 

Über die Zeit verfeinern sie ihre komplexen Fähigkeiten. Das hört nicht im Alter von 4 oder 8 Jahren auf – übrigens auch nicht mit 14 oder 18 Jahren. Wir entwickeln uns ständig weiter. Und stets brauchen wir soziale Beziehungen, um lernen zu können.

 

Auch, wenn wir soziale Beziehungen und alles, was wir für die Gestaltung dieser brauchen (Gefühle wahrnehmen und regulieren können, Empathiefähigkeit, Sprache usw.) als Normalität erleben, so sind sie doch eine komplexe evolutionäre Errungenschaft.

 

Kinder brauchen eine lange Zeit lang eine intensive Begleitung. Sie brauchen Möglichkeiten zum Üben und Rückmeldungen, um ihre Kompetenzen zu verfeinern. Wenn Kinder diese Möglichkeiten nutzen, dann läuft das nun mal nicht leise, still und heimlich ab - zumindest meistens nicht. Es braucht das Sich-miteinander-auseinandersetzen, anecken, sich ausprobieren, auf die Nase fallen, sich von Kindern und Erwachsenen inspirieren lassen, wieder ausprobieren, verfeinern, Standpunkte entwickeln, den eigenen Weg finden.

 

Über unsere eigenen Erwartungen als Eltern

Im Familienalltag machen wir uns diese Dinge selten bewusst.

Wir übersehen, welch ein soziales Potenzial in uns steckt.

Wir sehen häufig nicht, dass Kinder und Jugendlichen viele Jahre lang Begleitung brauchen, um ihr soziales Potenzial entfalten zu können.

Wir übersehen häufig, dass wir eben nicht einfach nur Brote schmieren, Wunden versorgen, trösten und uns Geschichten über den Streit mit Klassenkamerad*innen anhören – wir sehen nicht, dass wir die Kinder in eben diesen Momenten dabei unterstützen, die inneren Strukturen zu entwickeln, die sie durch ihr Leben tragen werden.

Und wir sehen nicht, dass eine würdevolle und feinfühlige Begleitung der Kinder uns als Eltern sehr viel Zeit und Energie kostet und wir dafür eben auch einen Preis zahlen.

Was tun wir stattdessen?

Statt unsere sozialen Fähigkeiten zu bestaunen und zu würdigen, übersehen wir sie allzu oft, schätzen sie gering oder packen sie in Rahmenbedingungen und Erwartungen, in denen sie sich kaum entfalten können.

Wir lassen uns von der Erwartung leiten, dass sich Partnerschaft, Kinder, mehrere Jobs, Wohnung oder Haus, Hobbies, vielleicht noch Haustiere ohne Weiteres unter einen Hut bringen lassen müssten. Wir denken, dass vier Schultern alles stemmen könnten oder können müssen. Durch diese Erwartungen verfehlen wir eine Art zu leben, die uns als Menschen angemessen ist und unserer Natur entspricht: Alles gleichzeitig, in allen Bereichen möglichst viel und das Ganze dann möglichst unaufgeregt und ohne, dass ein Familienmitglied aus dem Rahmen fällt. 

Wenn wir spüren, dass es nicht funktioniert, suchen wir nach Gründen. Und finden diese  bei den Menschen, die uns nah sind - in unserem Partner oder unserer Partnerin beispielsweise.

„Wenn er oder sie doch nur anders wäre... geduldiger… fröhlicher… feinfühliger… liebevoller…“

"… dann wären die Kinder ruhiger."

"… dann würde es mit dem Sport klappen."

"… dann könnten ich vielleicht doch noch zum Sommerfest und zur Weihnachtsfeier mit den Kolleginnen gehen."

"… dann wäre ich glücklich."

 

Der Partner/ die Partnerin soll dafür sorgen, dass eine Rechnung aufgeht, die einfach nicht aufgehen kann.

Schuldzuschreibungen passieren uns umso eher, je mehr Stress und Überforderung wir erleben. Und andererseits sind wir ja tatsächlich weniger geduldig und feinfühlig, wenn wir dauerhaft überlastet sind. Wenn Eltern streiten, am Abend anmotzen oder sich erschöpft aus dem Weg gehen, heißt das meines Erachtens nicht unbedingt, dass sie sich nicht mehr mögen. Manchmal bedeutet es schlichtweg, dass zu viele Aufgaben auf zu wenigen Schultern verteilt sind und, dass Familien dringend Entlastung brauchen – und auch selbst anerkennen, was sie leistenU - um nicht auf einen Zug voller Erwartungen aufzuspringen, der uns schlichtweg nicht entspricht.

Über das gesellschaftliche Bild

Es ist ein individuelles Problem und es ist ein gesellschaftliches Problem: wir würdigen nicht, was Menschen leisten, die Kindern einen geeigneten Rahmen bieten, in dem sie sich entwickeln können. Zeit mit Kindern wird ein geringer Wert beigemessen. Das gilt für Fachleute aus der Betreuung übrigens genauso wie für Eltern.

Es wird immer wieder dieses Bild reproduziert: Kinder sollen nicht auffallen und nebenbei mitlaufen. In der westeuropäischen Gesellschaft wird übersehen was das Mensch-Sein ausmacht und, dass Kind-sein das Gegenteil ist von „nicht auffallen“ und „nebenbei mitlaufen“ (siehe oben zur Entwicklung und was es dafür braucht). In den ersten Monaten der Pandemie wurde von Müttern und Vätern erwartet, dass sie ihre Arbeit machen, während sie gleichzeitig die Kinder versorgen und mit ihnen an den Schulaufgaben tüfteln. In Restaurants wird erwartet, dass die Kinder still dasitzen oder noch besser: Familien sollten ganz darauf verzichten Essen zu gehen.

Von sich selbst erwarten Eltern, diesen Erwartungen gerecht zu werden - und setzen dann die oben beschriebenen Extra-Erwartungen noch obendrauf: Freundschaften pflegen, Hobbies kultivieren und sich am Abend um die Partnerschaft kümmern: sich die letzte Stunde des Tages noch einmal besonders aufmerksam begegnen - mit dem Wissen, dass sich nach einer Stunde Schlaf womöglich schon das erste Kinder wieder meldet.

Wie gehen glückliche Paare mit den unerfüllbaren Anforderungen um?

Wenn ich beschreibe, wie komplex die Entwicklung von Kindern ist und, dass sie dabei Begleitung von feinfühligen Menschen brauchen, möchte ich damit nicht dafür werben, dass Eltern sich ausschließlich und exklusiv um die Kinder kümmern sollen. Denn auch das entspricht nicht unserer Natur.

 

Ich möchte dafür werben, unerfüllbare Erwartungen fallen zu lassen (das tue ich auch in der Online-Paarberatung und in der Paar- und Familientherapie in meiner Praxis in Darmstadt):

  • Die Erwartung, dass wir den Werten von Schnelllebigkeit, Gleichzeitigkeit und Perfektion entsprechen müssen.
  • Die Erwartung, dass Eltern alles alleine schaffen müssen (in meinem Artikel über erschöpfte Mütter und Väter beschreibe ich einige Ideen zum Aufbau von Netzwerken und professionellen Unterstützungsangeboten).
  • Die Erwartung, dass Familienleben ruhig, geordnet und geradlinig verläuft (das Gegenteil ist der Fall).
  • Die Erwartung, dass Kinder, denen es gut geht, keine Gefühlsausbrüche haben (das Gegenteil ist der Fall).
  • Die Erwartung, dass unser Partner oder unsere Partnerin auffangen muss, was wir nicht schaffen.

Wenn wir diese Erwartungen fallen lassen, dann können wir anfangen, nach Wegen zu suchen. Denn das ist der Unterschied: unglückliche Paare suchen nach Gründen für das Unlösbare, glückliche Paare suchen nach Wegen, um mit dem Unlösbaren einen Umgang zu finden.

 

... Und das meine ich dann damit, wenn ich sage: wir sollten aus Papiermüll Konfetti machen: wenn die Voraussetzungen schon bescheuert sind, dann sollten wir zumindest was draus machen.

 


Dies ist das Blog des Halthafens.

 

Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Aus meiner Arbeit heraus entwickele ich außerdem psychologische Kinderbücher. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein.