Sexualität und Familie – psychologische Grundlagen und Kinderbuch-Empfehlungen für einen offenen Umgang mit Sexualität

Jeder Mensch hat eine Sexualität - ganz gleich wie alt er oder sie ist - oder wie und mit wem er oder sie (zusammen-) lebt.

 

Hm? Auch Kinder?

Und welchen Stellenwert sollte das Thema „Sexualität“ eigentlich in einer Familie haben?

Wie spricht man unaufgeregt über Sex?

Und wie können wir unsere Kinder dabei unterstützen, einen entspannten und liebevollen Umgang mit dem eigenen Körper zu entwickeln (den sie gut gebrauchen können, um z.B. eine erfüllte Sexualität entwickeln zu können)?

 

Diesen Fragen möchte ich mich in diesem Artikel nähern und euch als Eltern dabei einige Gedanken und Hilfestellungen aus meiner Arbeit als (Online-) Paartherapeutin und Familientherapeutin an die Hand geben.

 

Die Sexualität der Eltern

Wenn wir den Begriff „Sexualität“ hören oder lesen, denken wir meist an Gefühle, Aktivitäten und Bedürfnisse, die mit Geschlechtsverkehr im engeren Sinne oder der Erotik von Liebespaaren zu tun haben. Sexualität kann aber in vielerlei Hinsicht betrachtet werden und ist aus meiner Sicht viel mehr. Ich werde mich in einem zweiten Artikel ausführlich mit Aspekten der elterlichen Sexualität beschäftigen – an dieser Stelle möchte ich dennoch gerne knapp einige Punkte benennen, die mir in meiner Arbeit begegnen:

 

In der Paartherapie (online oder in meiner Praxis in Darmstadt macht dabei keinen allzu großen Unterschied) schaue ich mir mit meinen Klient*innen gerne und wenn gewünscht verschiedene Bereiche ihrer Sexualität an. Es geht beispielweise um die „gemeinsam geteilte Sexualität“ und die jeweils „nicht geteilte Sexualität“. Letztere umfasst die Wünsche, Ideen, Bedürfnisse, Handlungen, die nicht mit dem Partner oder der Partnerin geteilt werden - die aber weiterentwickelt und die geteilte Sexualität spannender machen können. Eltern, die als Liebespaar zusammen sind, stellen sich immer wieder die Frage, wie die „geteilte Sexualität“ einen Platz im Familienalltag bekommen kann. Wann und wo kann man den Sex haben, wenn man mit einem oder mehreren (jungen) Kindern zusammenlebt?

 

Als Eltern erleben wir noch weitere Facetten von Sexualität, nämlich auch Bereiche, die die Kinder betreffen. Beispielsweise das Interesse der Kinder an ihrem eigenen Körper und ihr Interesse an der Sexualität der Erwachsenen. Wenn die Kinder die Nähe der Eltern miterleben (z.B. das Kuscheln auf der Couch, vielleicht eine Schultermassage nach dem Abendessen, den Begrüßungskuss usw.), zeigen sie häufig Interesse daran – manchmal reagieren sie auch irritiert oder genervt. Als Eltern hören wir dann vielleicht Dinge wie:

 

„Was macht ihr da?“

„Ich will mitkuscheln!“

„Igitt, hört sofort auf damit!“

 

Viele Kinder kommen früher oder später auch mit gezielten Fragen auf ihre Eltern zu: Sie wollen vielleicht wissen, warum Paare sich küssen und auch, wie „Babys gemacht werden“ oder warum sie in Mamas gewohnt haben– und nicht in Papas Bauch.

 

Kinder sind neugierig. Sie wollen verstehen und erfassen, was gerade interessiert und spannend erscheint. Das gilt auch für den eigenen Körper, die Körper der Lieblingsmenschen und das Thema „Sexualität“.

 

Die sexuelle Entwicklung von Kindern liebevoll begleiten

In meiner Arbeit als (Online-) Paartherapeutin für Eltern erlebe ich, dass es bei Eltern viele Unsicherheiten gibt. Klar – denn viele Eltern haben selbst als Kinder einen eher verkrampften und wenig fantasievollen Umgang mit sexuellen Themen in der Familie erlebt. Eltern fragen sich beispielsweise, ob es in Ordnung ist, die Kinder ihren Körper entdecken zu lassen, was hierbei „normal“ ist bzw. was wir als Eltern beachten sollten.

 

Zunächst einmal möchte ich es noch einmal konkret benennen: Kinder haben eine eigene Sexualität – von Anfang an. Sie ist einer ihrer urpersönlichen Bereiche. Die Sexualität von Kinder ist etwas anderes als die Sexualität von Erwachsenen, insbesondere etwas anderes als der Sex zwischen erwachsenen Menschen.

 

In der sexuellen Entwicklung der Kinder geht es zunächst einmal darum, den eigenen Körper und eigene Empfindungen kennenzulernen, das Leben mit allen Sinnen erfahren und die eigene Welt zu entdecken – je nach Alter mal mehr mit den Augen, mal mehr mit den Händen oder dem Mund. Sinnliche Erfahrungen sammeln Kinder manchmal alleine für sich – und manchmal mit ihren Lieblingsmenschen. Viele Kinder lieben Hautkontakt; die jüngeren Kinder zum Beispiel beim Stillen oder Trinken, bei Streichelspielen und bei der Körperpflege. Ältere Kinder genießen vielleicht das Kuscheln am Abend oder, wenn ihnen jemand etwas auf den Rücken malt oder schreibt. Ganz wichtig beim Körper- und Hautkontakt ist auch hier das Achten der Grenzen. Wenn Kinder Berührungen verbal oder nonverbal ablehnen, ist dies zu Achten. Immer.

 

Wir können den Kindern von Geburt an dabei helfen, einen positiven Bezug zu ihrem Körper zu entwickeln. "Einfach" dadurch, dass wir uns ihnen in ihrem Entdeckungsdrang nicht in den Weg stellen – und uns ggf. mit eigenen Unsicherheiten auseinandersetzen. Schon ganz früh entdecken Kinder ihre Vulva oder ihren Penis, berühren sich und spüren, welche Gefühle sie dabei erleben. Sie nehmen dabei auch sehr genau wahr, wie wir Erwachsene darauf reagieren. Wenn wir gelassen auf ihren Umgang mit ihren intimen Berührungen reagieren, nehmen sie das ebenso wahr wie unsere Unsicherheiten oder Irritation. Dabei ist es übrigens nichts Schlimmes oder Schlechtes als Bezugsperson unsicher zu sein. Unsere eigene Unsicherheit weist uns darauf hin, dass wie hier vielleicht gerade einen Bereich kennenlernen, für den wir selbst erst einmal eine Haltung brauchen - und vielleicht auch Worte. Kinderbücher können hier eine große Hilfe sein – ich gehe weiter unten auf meine Lieblingsbücher zu den Themen „Aufklärung“ und „Körper“ ein.

 

Eine besondere Bedeutung in der sexuellen Entwicklung der Kinder kommt auch den (Mini-) Momenten zu, in denen wir unseren Kindern tagtäglich liebevollen Kontakt anbieten. Positive Erfahrungen in der Familie helfen Kindern dabei, körperliche und emotionale Nähe zu anderen Menschen als angenehm erleben zu können. Dies ist auch später in Liebesbeziehungen für sie eine Grundvoraussetzung für eine lebendige und erfüllte Sexualität. Übrigens spielt auch die Balance von Nähe und Distanz - ein Grundthema jeder Beziehung - von Anfang an eine Rolle: Kinder machen auch die Erfahrung, dass ihre Bedürfnisse nach Kontakt nicht jederzeit befriedigt werden kann. Alle Menschen müssen im Laufe ihres Lebens immer wieder Nähe und Distanz ausbalancieren.

 

Unsere Kinder beobachten uns außerdem dabei, wie wir mit unserem eigenen Körper umgehen. Sie registrieren, ob wir unsere eigenen Körpersignale wahrnehmen und ernst nehmen. Spüren wir, wenn wir verspannt sind? Und was tun wir dann? Holen wir uns einen Tee oder eine Decke, wenn es uns fröstelt? Was tun wir, wenn im Winter die Hände trocken oder im Sommer die Schultern von der Sonne gerötet sind? Was tun wir bei Anzeichen von Erschöpfung? Und wie ernähren wir uns?

 

Die Beschäftigung mit der eigenen Sexualität beginnt also nicht erst dann, wenn Kinder mit ihren Fragen zur Entstehung von Babys zu uns kommen oder, wenn sie als Jugendliche erste Erfahrungen mit dem Verliebtsein machen. Förderung der kindlichen sexuellen Entwicklung ist in erster Linie der alltägliche Umgang miteinander in der Familie - der im besten Fall achtsame und würdevolle Umgang miteinander und mit dem eigenen Körper.

 

Gespräche mit Kindern rund um das Thema „Sexualität“

Die Sprache spielt bereits ab einem Alter von etwa drei Jahren für die sexuelle Entwicklung von Kindern eine wichtige Rolle. In diesem Alter lernen Kinder beispielsweise die Bezeichnungen für ihre Geschlechtsorgane, außerdem stellen sie Fragen zu Geschlechtsunterschieden.

 

Gespräche über sexuelle Themen gewinnen insbesondere in der Pubertät noch einmal sehr an Bedeutung – wobei diese Gespräche ganz natürlicherweise zu einem großen Teil nicht mit den Eltern stattfinden.

 

Es gibt Studien, die der Frage nachgehen, was Erwachsene brauchen, um eine erfüllte Sexualität erleben zu können. Dabei ist eines der Ergebnisse immer wieder, dass es eine wertvolle Voraussetzung ist, eine Sprache für die eigene Sexualität entwickelt zu haben bzw. offen dafür zu sein, diese Sprache weiterzuentwickeln (auf der Website von „OMGYES“ gibt es hierzu viele interessante Inhalte). Dieses Ergebnis deckt sich mit meinen Erfahrungen aus der (Online-) Paartherapie und Paarberatung.

 

Ich hatte einerseits das große Glück, bei meinen eigenen Eltern einen offenen Umgang mit sexuellen Themen miterleben zu dürfen. Gleichzeitig spüre ich genauso wie alle Eltern bei bestimmten Themen Unsicherheiten. Es gibt einfach Themen, die unsere sensiblen Stellen berühren. Und es gibt Themen, bei denen wir bisher kaum Gelegenheiten hatten, uns in einer Wortwahl zu üben, die zu uns passt. Wenn ich an einem solchen Punkt bin, begebe ich mich zunächst einmal für mich selbst auf die Suche nach Worten, die für mich stimmig sind – dies tue ich sehr gerne mithilfe von Kinderbüchern (meine bindungsorientierten psychologischen Kinderbücher findest du auf dieser Website über den Reiter "Kinderbücher"). Auch rund um die Themen „Aufklärung“ und „Sexualität“ gibt es inzwischen eine ganze Reihe wunderbarer Bücher.

 

Kinderbücher zur Aufklärung und für Gespräche über Sex

Von wegen Bienchen und Blümchen! Aufklärung, Gefühle und Körperwissen für Kinder ab 5

Carsten Müller & Sarah Siegl, illustriert von Emily Claire Völker

Erschienen bei Edition Michael Fischer

Diese Buch ist aus meiner Sicht ein wunderbares und umfangreiches Buch rund um den menschlichen Körper und das Thema „Sexualität“. „Von wegen Bienchen und Blümchen“ enthält keine Geschichte, sondern ist vielmehr ein Sachbuch für Familien – ich finde auch die Bezeichnung „Entdecker*innenbuch“ passend, da die bunten Illustrationen, der Text für Kinder und die Hinweise für Erwachsene große und kleine Leser*innen zum Entdecken einladen.

Carsten Müller ist Paar- und Sexualtherapeut, im Buch werden viele Aspekte unaufgeregt und klar benannt ohne die Kinder dabei zu überfordern. Ich mag insbesondere, dass das Buch fast wie nebenbei die Botschaft vermittelt, dass Erwachsene Sex rundum genießen dürfen.

 

 

Liebe machen

Hans-Christian Schmidt, illustriert von Andreas Német

Erschienen bei Klett Kinderbuch

Dieses Buch erzählt die Geschichte von zwei Steinzeitmenschen, die sich ineinander verlieben, Sex haben und schließlich ein Kind bekommen. Es nähert sich den Themen „Liebe“ und „Sex“ auf kreative, witzige Weise. Der Text ist in Reimform geschrieben. Mich persönlich sprechen Reime in Kinderbüchern eher selten an, in diesem Buch finde ich die Reime wunderbar!

 

 

Lina, die Entdeckerin

Katharina Schönborn-Hotter, Lisa Sonnberger, Flo Staffelmayr

Illustriert von Anna Horak

Erschienen im Achse Verlag

Dieses Kinderbuch möchte zur Normalisierung und Enttabuisierung der Vulva und (weiblicher) Sexualität beitragen. Die Leser*innen begleiten das Mädchen Lina, die sich auf eine Forschungsreise begibt und dabei ihren Körper entdeckt und bereist. Die Kombination von Text und Illustrationen arbeitet mit einer Metaphorik, die ich aus künstlerischer Sicht sehr spannend und schön finde. Durch diese Metaphorik ist das Buch eher für etwas ältere Kinder geeignet, ab dem Grundschulalter. Auch Linas große Schwester kommt im Buch vor, Lina beschäftigt sich dadurch auch mit der Menstruation.

 

 

Bruno will hoch hinaus

Sabine Ziegelwanger, Flo Staffelmayr

Illustriert von Anna Horak

Erschienen im Achse Verlag

Das Pendant zu „Lina, die Entdeckerin“ ist „Bruno will hoch hinaus“. Das Buch beschäftigt sich mit Fragen, die den männlichen Körper betreffen. Es geht zum Beispiel darum, warum ein Penis manchmal fest wird oder warum die Hoden so empfindsam sind. Ein schönes Buch, um mit Kindern zu diesen Themen ins Gespräch zu kommen.

 

In der Welt der Fantasie wachsen wir über uns hinaus.

Ein Grund, warum Kinderbücher in meinem Alltag als systemische Therapeutin und als Mutter einen großen Platz haben, ist, dass sie kreative und fantasievolle Wege im Umgang mit Unsicherheiten und Hürden aufzeigen.

 

Ich glaube, dass uns eine neugierige und fantasievolle Grundhaltung in allen Bereichen des Familienlebens guttut - ganz gleich, ob es um Meinungsverschiedenheiten als Liebespaar, große Gefühle der Kinder, die Sexualität der Eltern oder den Umgang der Kinder mit dem eigenen Körper geht.


Vielen herzlichen Dank an die Verlage "Klett Kinderbuch", "Achse" und "EMF" für die freundliche Genehmigung zur Abbildung der Buchcover!

 

Die Bücher stelle ich hier vor, weil ich sie in meiner Praxis und Zuhause mit meinen Kindern gerne nutze. Ich wurde hier weder beauftragt, noch bezahlt. Es gibt neben den hier vorgestellten Büchern noch eine ganze Reihe weiterer toller Bücher, die ebenfalls behutsam und unaufgeregt aufklären. Die hier genannten Bücher sind meine persönlichen Lieblingsbücher zum Thema.

 


Wer schreibt hier?

 

Dies ist das Blog des Halthafens von Julia Schneider, Psychologin und Mutter von zwei Kindern.

 

Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Aus meiner Arbeit heraus entwickele ich außerdem psychologische Kinderbücher. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein.