"Warum geht Papa* manchmal in sein Schneckenhaus?" - Klare und feinfühlige Antworten für Kinder aus der bindungsorientierten (Online-) Paartherapie

Wenn der Partner oder die Partnerin sich zurückzieht und schweigt

 Sich Zurückzuziehen kann notwendig und hilfreich sein, wenn wir uns überfordert fühlen und in Situationen, die uns dauerhaft nicht guttun.

 

Wenn Rückzug eine Art des Umgangs bei Konflikten in der Partnerschaft ist, zeigen sich die Partnerin oder der Partner häufig unzufrieden.

 

"Du ziehst dich ständig zurück!"

"... und dann stehe ich mit den Kindern alleine da."

"Du bemerkst nicht, wenn ich dich brauche!"

"Ich weiß nicht, wer du eigentlich bist!"

"Der erste Schritt kommt immer von mir!"

 

... sind dann beispielsweise Aussagen der Partner*innen. Es sind verschiedene Bereiche, aus denen sich Partner*innen zurückziehen können: die Gesprächsebene, bei der Begleitung der Kinder, Sexualität. Dies erlebe ich immer wieder in meiner Praxis für (Online-) Paarberatung und Paartherapie.

 

Die Psychologin Sue Johnson, die den Ansatz der emotionsfokussierten Paartherapie entwickelt hat, nennt Menschen, die sich "gerne" verkriechen, "Rückzügler*innen".

Ich nutze gerne die Bezeichnung "Schnecke", weil er den Aspekt der Sicherheit impliziert: Manchmal ziehen Menschen sich zurück in ihr Schneckenhaus - dorthin, wo sie sich sicher fühlen.

 

Uns Menschen geht es immer um Sicherheit. Denn nur wenn wir sicher sind, können wir es "wagen" in Kontakt zu gehen.

 

Bindungsstile - Partnerschaft - Elternschaft

Wir haben ein "soziales Gehirn". Ein großer Teil unseres Gehirns beschäftigt sich sozusagen mit den Menschen um uns herum:

Was sagen ihre Blicke und ihre Worte?

Was tun sie?

Was fühlen sie?

Was sind wohl ihre Absichten?

Wollen Sie mit mir in Verbindung kommen?

Oder vielleicht Streit?

Ist das hier ein sicherer Ort für mich?

 

Interessant ist die Frage, was wir tun, wenn eine Situation, an der andere Menschen beteiligt sind, für uns eine Herausforderung darstellt, zum Beispiel bei Konflikten als Paar oder als Familie.

 

In einigen Teilen unseres Gehirns, die uns "dabei helfen" knifflige, zwischenmenschliche Situation zu meistern, ist unser Wissen in "prozeduraler Form" abgelegt. Das bedeutet, wir nutzen Schemata, die uns als eine Art Leitfaden dienen, die wir kaum in Worte fassen können - häufig sind sie uns erst einmal nicht bewusst. Das kennen wir vom Fahrradfahrrad: wir fahren einfach, ohne darüber nachzudenken.

 

Unsere Tendenzen in Konfliktsituationen auf eine bestimmte Art zu reagieren, hängen von verschiedenen Faktoren ab. Ein Faktor sind unsere Erfahrungen, die wir gesammelt haben - in der Familie, in der wir aufgewachsen sind, in Freundschaften und anderen Beziehungen (mit Lehrer*innen, in früheren Partnerschaften usw.).

 

Welche Erfahrungen haben wir hier gemacht? Haben diese Menschen uns geholfen, mit Herausforderungen klarzukommen? Haben sie uns vielleicht dafür abgewertet, dass wir manchmal nicht allein weitergekommen sind- um Beispiel mit unserer Frustration, unserem Ärger oder Enttäuschung? Was haben sie uns vorgelebt?

 

Sich in das eigene Schneckenhaus zu verkriechen war für manche Menschen eine Zeitlang die bestmögliche Lösung - dann, wenn sie viele, viele Male die Erfahrung gemacht haben, dass es "das Ganze" nur noch schlimmer macht, wenn sie die eigene Not zeigen.

 

Bindungsforscher*innen sprechen von einem "vermeidenden Bindungsstil". Wir können unser Bindungsbedürfnis sozusagen ausschalten und lernen, allein klarzukommen. Wir sind gut darin herauszufinden, wie wir in den Beziehungen, in denen wir leben zurechtkommen. Wenn wir oft genug die Erfahrung machen, dass wir negatives Feedback bekommen, wenn wir bei Kummer und Schmerz Trost und Halt suchen, ist es schlau, sich einen abgeschiedenen Ort ganz für sich allein zu suchen.

 

Schneckenhäuser bewusst als wertvolle Ressource nutzen

Nicht jedes Verhalten, das für uns irgendwann einmal hilfreich war, ist es auch heute noch.

Würdigen dürfen wir dennoch alle unsere Anteile und damit aufhören, uns abzuwerten.

Ausgehend von dieser Haltung können wir daran arbeiten, neue Wege zu gehen. Wir können lernen, unser Schneckenhaus bewusst zu nutzen, also zu entscheiden, wann wir unsere Ruhe haben wollen und wann es sich eben doch lohnt, in Kontakt zu unseren Lieblingsmenschen zu bleiben. Oder, ob es sich lohnt, irgendwann aus dem Schneckenhaus wieder herauszukommen und wieder aufeinander zuzugehen.

 

Ich hoffe, es gelingt mir, zu verdeutlichen, dass ich Rückzug nicht als gut oder schlecht bewerte. Ich bin systemische Therapeutin und aus systemischer Sicht gibt es kein gutes oder schlechtes Verhalten an sich - entscheidend ist die Wirkung eines Verhaltens.

In der Beziehung fühlen sich die Partner*innen von Schnecken häufig einsam, was nicht beabsichtigt ist, sondern die Schnecken meist nicht oder recht spät bemerken.

Für die Kinder kann der Rückzug eines Elternteils zu einem Problem werden, wenn Eltern dauerhaft wenig feinfühlig reagieren (ggf. Belastung auf Bindungsebene) und insbesondere, wenn keine anderen Bezugspersonen da sind, die die Kinder auffangen können.

 

Und da kann es auch eben lohnen hinzuschauen.

 

Was die Partnerschaft betrifft: Verhalten findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern in Beziehungen. Schnecken tun sich gerne (statistisch gesehen häufig) mit Menschen zusammen, die diametral auf Stress und Konflikte reagieren: Menschen, die dazu neigen, intensiv die Nähe zum Partner oder zur Partnerin zu suchen. So ergibt sich manchmal ein Muster aus "Schneckenjagd" auf einer Seite und Rückzug ins Schneckenhaus auf der anderen Seite (hier gibt es keinen Anfang und kein Ende im Sinne von "Ursache-Wirkung" - stattdessen kann jede Partnerin und jeder Partner schauen kann, was er oder sie beitragen könnte, um den Kampf Nähe und Freiraum zu beenden. Das ist nicht unbedingt leicht, manchmal braucht es Begleitung, beispielsweise durch Paartherapie).

 

Der Blick auf die Kinder und ihre Entwicklung

Wenn ein Paar immer wieder eine Balance zwischen Nähe und Freiraum aushandelt, geschieht das nicht immer still. Muss es auch nicht. Nur manchmal verwickeln sich Erwachsene häufig in Streitereien und bemerken dabei nicht, wie es den Kindern eigentlich geht.

Wenn ein erwachsener Mensch mit Worten oder Gegenständen um sich schmeißt und/ oder sich in sein Schneckenhaus verkriecht, kann (!) das für die Kinder schwierig sein - ebenso wie es für Kinder schwierig sein kann, wenn Erwachsene Menschen die Grenzen eines anderen Menschen nicht respektieren.

 

Die Art und Weise macht dabei den Unterschied: wird beispielsweise das Aushandeln von Nähe und Freiraum von "Kampfansagen" getragen, haben die Kinder eher ein Problem, als wenn dabei ein Augenzwinkern und Humor mitschwingt.

Letzteres ist nicht immer oder zumindest nicht immer ohne "Übung" möglich: Es gibt Reaktionen, die wir willentlich nicht steuern können (hier schreibe ich mehr darüber) bzw. sind wir vielleicht noch dabei, neue Wege im Umgang mit (Bindungs-) Mustern zu finden.

Entscheidend ist doch, dass wir uns auf den Weg machen einen Umgang mit eigenen Bedürfnissen und Merkmalen zu machen, mit dem auch die Kinder gut Leben und sich entwickeln können. Entscheidend ist, dass wir Verantwortung übernehmen.

Nicht jede schwierige (verletzende) Situation im Familienalltag lässt sich vermeiden, gleichzeitig gibt es immer weniger hilfreiche und hilfreiche Wege mit diesen umzugehen.

 

Für Kinder kann es hilfreich sein, wenn wir eine offene Gesprächskultur anbieten und Konflikte und Herausforderungen, die die Kinder ja ohnehin mitbekommen, mit ihnen (nach-) besprechen.

 

Formierungshilfe für Eltern und Kinder bei Rückzug eines Elternteils

Aus der Arbeit mit Familien in meiner Praxis heraus entwickele ich psychologische und therapeutische Kinderbücher. Manchmal schreibe ich auch kürzere Texte für ganz bestimmte Fragen und Themen der Familien. Die nachfolgende Formulierungshilfe, eine Art "Erklärgeschichte", habe ich für Schnecken und Schneckenjäger*innen und ihre Kinder entwickelt. Sie kann als Gesprächsgrundlage dienen.

 

Für Eltern und Kinder:

Oskar ist ein Schneckenjunge. Dies erzählt er über seinen Papa* und seine Mama*:

 

"Mein Papa ist ein Super-Papa.

Er hat groooße Fühler.

Er kann zehn Meilen gegen den Wind riechen.

Und er findet für uns jede noch so kleine Leckerei. Das ist gut, denn wir Kinder haben viel Hunger.

Schnecken mögen die Langsamkeit. Und mein Papa mag sie besonders.

 

Als mein Papa klein war, haben seine Schnecken-Mama und sein Schnecken-Papa manchmal gemeine Sachen zu ihm gesagt.

Hässliche Fühler hast du!

Oder:

Zieh' deine Fühler ein, die Anderen schauen schon!

Oder: So wie du dich anstellst, wird der Löwenzahn verwelkt sein, bevor du dort ankommst.

 

Er ist dann immer in sein Schneckenhaus gegangen - und hat die Fühler für eine Zeitlang nicht mehr nach draußen gestreckt.

Und sich nicht mehr von der Stelle bewegt.

 

...Mama hat mir gesagt, solche Worte können weh tun, in etwa so, wie wenn jemand mit einem Ast auf unsere empfindlichen Fühler draufhaut.

 

Weil mein Papa so viel Zeit im Schneckenhaus verbracht hat, hatte er nicht so viel Gelegenheit zu lernen, wie man eigentlich zu anderen Schnecken nett ist (oder was man machen kann, wenn man sich gerade überhaupt nicht nach "nett-sein" fühlt).

 

Zu meiner Mama und zu uns Kinder ist Papa nett - meistens jedenfalls.

Manchmal gibt es Situationen, in denen er sich erschreckt.

Zum Beispiel, wenn wir das "Lied vom verwelkten Löwenzahn" singen.

Oder wenn Mama, ohne zu fragen, sein Schneckenhaus mit ihren Fühlern anstupst.

Dann benimmt er sich seltsam.

 

Manchmal, wenn er sich ganz besonders doll erschrocken hat, wirft er Kleeblätter nach uns.

Und dann geht er in sein Schneckenhaus und zieht die Fühler ein.

 

Früher hat Mama die Kleeblätter zurückgeworfen.

Jetzt legt Mama ihm ein kleines Stück frischen Löwenzahn vor sein Schneckenhaus.

 

Wir Schneckenkinder kümmern uns nicht weiter darum. Denn Mama und Papa sagen, das ist Erwachsenensache.

 

Wenn Papa aus seinem Schneckenhaus wieder herauskommt, sagt er: 'Tut mir leid, Mädels und Jungs. Ihr könnt nichts dafür.'

Und dann fressen wir zusammen knackigen Löwenzahnsalat ...und machen Schleimspuren um die Wette."

 

Allgemeine Hinweise für Eltern, die mit ihren Kindern über ihre Geschichte sprechen

Abschließend möchte ich einige Punkte als Ergänzung zur Geschichte benennen:

  • Kinder profitieren von Erklärungen, eingebettet in Geschichten, die ihnen erlauben Vergangenheit und Gegenwart in sinniger Weise für sich miteinander zu verweben.
  • Außerdem profitieren Kinder davon, wenn wir ihnen Ambivalenzen zugestehen: "Ja, manchmal benimmt sich Papa oder Mama daneben und meistens ist er/ sie liebevoll und lustig".
  • Kindern tut es gut, wenn wir Wertschätzung und Begeisterung für den anderen Elternteil zeigen: "Niemand kann so weit gegen den Wind riechen wie euer Super-Papa!" - zum Beispiel.
  • Wir dürfen unsere Kinder an unserer Geschichte, auch an unseren emotionalen Erschütterungen, teilhaben lassen (unsere sensiblen Stellen sind so oder so Teil ihrer eigenen Geschichte) - altersentsprechend, in kindgerechten Worten und in einer bewussten Weise, in der die Verantwortung bei den Erwachsenen bleibt.

Über diese Punkte habe ich bereits an anderen Stellen geschrieben, zum Beispiel zu den Themen "Streit als Paar", "Warum gehen Mama und Papa zur Psychotherapie?", "Dissoziation".

 

Wenig hilfreiche Wege im Umgang mit Eigenheiten von Familienmitgliedern führen z.B. zu einem Mehr an Schamgefühlen, Schwere und Sprachlosigkeit. Hilfreiche Wege führen zu einem Mehr an persönlich wahrgenommener Sicherheit, Verbindung und Leichtigkeit.

 

Übrigens hängt es auch von unseren Persönlichkeitsmerkmalen ab, wie sehr wir die Nähe zu anderen Menschen suchen, um Kummer und Freude zu teilen. Diesen Punkt finde ich wichtig, denn wir dürfen uns die Frage stellen, an welchen Stellen unser Bedürfnis nach Rückzug und Freiraum einfach ein Teil von uns ist, unserer ureigenen Persönlichkeit, an der wir nicht herumkritisieren und herumbiegen sollten. Stattdessen dürfen wir als Einzelperson und als Paar einen Umgang mit ihnen finden und akzeptieren, wer und wie wir sind.

 


*"Mama" und "Papa" sind natürlich austauschbar, je nach Familienform bzw. je nachdem, wie Kinder ihre Eltern ansprechen.


Nutze in eurem Familienalltag gerne auch die anderen Geschichten meiner Reihe "Kindern unsere Psychologie erklären":

 

Teil 1 - "Warum weinen wir? - Eine Propellermaschine für unsere Gefühle" (hier findest du die Geschichte)

 

Teil 2 - "Warum trennen sich Eltern? - Wie Sonne und Mond wieder glücklich wurden" (bisher nur veröffentlich als Beitrag auf Instagram)

 

Teil 3 - „Wunderwolken für wichtige Aufgaben - Eine Geschichte, die Kindern erklärt, warum Eltern streiten“ (hier geht es zur Geschichte

 

Teil 4 - "Warum gehen Mama und Papa zur Psychotherapie? - Die Geschichte vom Seelenauto" (veröffentlicht auf dieser Seite)

 

Teil 5: "Runa und die Zauberstiefel - Was macht der Zeigarnik-Effekt in Familien?" (hier geht es zur Geschichte)


Dies ist das Blog des Halthafens.

 

Meine Texte ergeben sich aus der Beschäftigung mit psychologischer und systemischer Literatur und Forschung, meinen Erfahrungen in der Paartherapie mit Eltern in meiner Praxis in Darmstadt und der Paarberatung und Paartherapie online sowie aus meinem Leben als Mama von zwei Kindern. Aus meiner Arbeit heraus entwickele ich außerdem psychologische Kinderbücher. Wenn du über neue Texte informiert werden magst, folge mir gerne auf Instagram oder trage dich gern für meinen Newsletter ein.